FLÖTENMUSIK
Die Flöte, ähnlich wie die Oboe, spielt in meinem OEuvre eine besondere Rolle. An ihr reizt mich nicht nur der Klang, sondern auch die besondere Virtuosität, Behendigkeit, Leichtigkeit im Durchqueren großer Klangräume. Noch während meines Studiums komponierte ich das Altflötensolo coincidentia oppositorum (1986) und das Flötensolo succolarity (1989), relativ kurze Stücke. Für den Angelus-Novus-Zyklus geriet La terreur d’ange nouveau (1997–99) zu einem veritablen, großen Flötenwerk. Als vor zehn Jahren Shanna Pranaitis begann, meine Flötenmusik aufzuführen, entwickelte sich eine Zusammenarbeit, aus der die drei letzteren Stücke hervorgegangen sind: das Piccolosolo Kurtág-Cantus II (2013), das Duo mit der Sopranistin Frauke Aulbert Finite Jest (2014) und das Bassflötensolo atsiminimas (2016). Damit kommen sechs Stücke zusammen, die die gesamte Flötenfamilie umfassen.
»Coincidentia oppositorum« ist der Schlüsselbegriff der Philosophie von Cusanus und bezeichnet dort die Einheit aller realen Gegensätze in der höchsten Form des Geistes. Dieses Strukturprinzip liegt der Werkidee zugrunde. Die Gegensätzlichkeit erscheint in zwei diametral gegenüberstehenden unvermittelten Materialtypen, die, jeweils eigenen Gesetzen gehorchend, in Sektionen einander abwechseln. Sektionen mit dem Ton e1, im durchgehend gleichen Tempo mit den der Flöte eigenen Variationsmöglichkeiten (Vibrato, Flatterzunge, mikrotonale Umspielung, Timbretriller etc.), normal geblasen. Sektionen mit den übrigen Tonhöhen, jedoch perkussiv erzeugt (Klappengeräusch, Tongue-ram, Zungenschnalzen, zwei Sorten von Lippenpizzicato, Hineinsprechen von Konsonanten). Beide Typen werden zusammengeführt und zu einer Einheit gebracht.
succolarity liegt eine Idee der fraktalen Geometrie von Benoît Mandelbrot zugrunde: ein zwar labyrinthischer, aber doch vollständig kontinuierlicher Weg von einem Punkt zu einem anderen, der jedoch an einer Stelle eine kleine lacuna (Loch) aufweist, so dass der Prozess des Fließens letztlich doch unterbrochen ist. Den ersten Teil durchzieht eine Entwicklung mit zwei heterogenen Materialien (scharfe martellato-Attacken und eine langgezogene mikrotonale Melodie), im (kurzen, scharnierartigen) zweiten wechseln sich Mehrklänge ab; im letzten geht es um so etwas wie die »andere« Seite des ersten Teils. Mir schwebten spinnwebenartig flüchtige Gestalten vor, deren Unnahbarkeit einen diametralen Gegensatz zur physisch- gestischen Präsenz des ersten Teils bildet.
Das große, äußerst dichte Flötensolo La terreur d’ange nouveau wird von drei Klangtypen beherrscht, die sich vordergründig als »harmonisch«, »melodisch« und »rhythmisch-motivisch« beschreiben lassen. Das Rhythmisch-Motivisch-Repetitive dominiert, die harmonischen und melodischen Teile sind eingeflochten. Daraus ergibt sich ein vielfältiges Netz von Variationen, Wiederholungen, Stauchungen und Vergrößerungen.
Kurtág-Cantus II ist eine Weiterentwicklung des Piccolo-Parts meiner Hommage à György Kurtág (Mahnkopf Edition 4), welcher seinerseits eine Weiterentwicklung von Solitude-Nocturne für Piccolooboe (Mahnkopf Edition 7) ist. Ich habe Mehrklänge integriert und die Reihenfolge so umgestaltet, das eine eigenständige Dramaturgie entsteht. Der Charakter ist »sempre volante, quasi privo di gravità« (immer fliegend, wie ohne Schwerkraft).
In David Foster Wallaces Opus magnum Infinite Jest findet sich diese Stelle: »The American Century as Seen Through a Brick. Year of the Whopper. Latrodectus Mactans Productions. Documentary cast w/ narration by P. A. Heaven; 35 mm.; 52 minutes; color w/ red filter and oscillophotography; silent w/ narration. As U.S. Boston’s historical Back Bay streets are stripped of brick and repaved with polymerized cement, the resultant career of one stripped brick is followed, from found-art temporary installation to displacement by E.W.D. catapult to a wastequarry in southern Québec to its use in the F.L.Q.-incited anti-O.N.A.N. riots of January/Whopper, all intercut with ambiguous shots of a human thumb’s alterations in the interference pattern of a plucked string. PRIVATELY RELEASED ON MAGNETIC VIDEO BY LATRODECTUS MACTANS PRODUCTIONS.« Das ist eine Fußnote in einer langen Liste von realisierten Filmen des Protagonisten. Diese Passage verschwand über Jahre nicht aus meinem Kopf. Immerhin ist Wallace einer meiner Lieblingsschriftsteller. Als Shanna Pranaitis mich bat, ein Stück für sie und Frauke Aulbert zu schreiben, zögerte ich nicht, mich diesem Sujet zuzuwenden. Beide Ausnahme-Musikerinnen sind extrem virtuos und wandlungsfähig und bringen zugleich eine gewisse performative Komponente ins Spiel. Diese ist nötig, gehört doch Finite Jest definitiv zu einem humoristischen Stil (der im übrigen bei mir eher selten auftritt).
»Atsiminimas« ist litauisch und heißt «Erinnerung«. Mit diesem Stück vervollständige ich meine Flötenmusik, die bis dahin alle übrigen Instrumente der Flötenfamilie umfasste. Im Sommer 1984 komponierte ich ein völlig misslungenes Bassflötenstück auf drei Systemen, im Gedanken, dass er Spieler rhythmisch zwischen den drei Systemen hin- und herspringen solle. Wenig später hörte ich den Namen Ferneyhough zum ersten Mal, tags drauf wurde ich sein Schüler. Das Stück zeigte ich ihm nicht, war aber bass erstaunt, dass er zwei Jahre später sein Bassflötenstück auf drei Systemen notierte. Wenn atsiminimas auf drei Systemen beginnt, dann nicht, weil ich es Ferneyhough nachmache. Auch der Titel ist dem seines Stücks ähnlich, bezieht sich aber eher auf mein Violastück memor sum. Die Idee ist das Verschwinden des Instruments bzw. der Flötenfamilie. atsiminimas entstand in enger Kooperation mit Shanna Pranaitis, während sie alle meine Flötenstücke spielte. Darin fehlte das tiefste Instrument der Familie, das immerhin zuvor den Beginn von Finite Jest für Flöte und Sopran markierte. atsiminimas ist in gewisser Weise eine Zusammenfassung meiner Flötenmusik, indem es unterschiedliche Ideen aufgreift und formal verbindet.
Ich danke den beiden Musikerinnen, insbesondere Shanna Pranaitis, die keine Mühe gescheut haben, diese spieltechnisch und interpretatorisch anspruchsvollen Stücke einzuspielen.
(Claus-Steffen Mahnkopf)
FLUTE MUSIC
The flute, like the oboe, has a special place in my output. What draws me to it is not simply the sound, but also its particular virtuosity, agility and ease in crossing large sonic spaces. I was still a student when I composed the alto flute solo coincidentia oppositorum (1986) and the flute solo succolarity (1989), relatively short pieces. For the Angelus Novus cycle, La terreur d’ange nouveau (1997–99) turned out to be a significant, substantial flute work. When Shanna Pranaitis began performing my flute music ten years ago, this led to a cooperation that spawned the three most recent pieces: the piccolo solo Kurtág-Cantus II (2013), the duo Finite Jest (2014) with the soprano Frauke Aulbert, and the bass flute solo atsiminimas (2016). Together, these six pieces cover the entire flute family.
Coincidentia oppositorum is the central concept in the philosophy of Nicholas of Cusa, where it refers to the unity of all real opposites in the highest form of spirit. This structural principle is the basis of the work’s idea. The contrast appears in two diametrically opposed types of material that alternate abruptly, each following its own laws. On the one hand, sections using the note E4, played at a constant tempo with normal technique, albeit with the special variations native to the flute (vibrato, fluttertonguing, microtonal circling, timbre trills etc.). On the other hand, sections with the other pitches, but produced percussively (key clicks, tongue rams, tongue clicks, two types of lip pizzicato, consonants articulated into the instrument). The two types are brought together to form a unity.
succolarity is based on an idea from the fractal geometry of Benoît Mandelbrot: a labyrinthine, yet entirely continuous path from one point to another that has a small lacuna at one point, meaning that the process of flow is interrupted after all. The first part is characterised by a development with two heterogeneous material types (sharp martellato attacks and a protracted microtonal melody), while the (short, hinge-like) second part alternates between multiphonics; the latter could be said to explore the ‘other side’ of the former. I had a mental image of ephemeral, cobweb-like shapes whose unapproachable nature is the exact opposite of the physical and gestural presence of the first part.
The long, highly dense flute solo La terreur d’ange nouveau is dominated by three sonic types that can be crudely described as ‘harmonic’, ‘melodic’ and ‘rhythmic-motivic’. The rhythmicmotivic- repetitive type is the central one, while the harmonic and melodic parts are woven into it. This results in a manifold web of variations, repetitions, compressions and expansions.
Kurtág-Cantus II is a further development of the piccolo part from my Hommage à György Kurtág (Mahnkopf Edition 4), which is in turn a further development of Solitude-Nocturne for piccolo oboe (Mahnkopf Edition 7). I integrated multiphonics and altered their sequence in such a way that an independent dramaturgy ensued. The character of the music is sempre volante, quasi privo di gravità (always flying, as if weightless).
David Foster Wallace’s magnum opus Infinite Jest contains the following passage: ‘The American Century as Seen Through a Brick. Year of the Whopper. Latrodectus Mactans Productions. Documentary cast w/ narration by P. A. Heaven; 35 mm.; 52 minutes; color w/ red filter and oscillophotography; silent w/ narration. As U.S. Boston’s historical Back Bay streets are stripped of brick and repaved with polymerized cement, the resultant career of one stripped brick is followed, from found-art temporary installation to displacement by E.W.D. catapult to a waste-quarry in southern Québec to its use in the F.L.Q.-incited anti-O.N.A.N. riots of January/Whopper, all intercut with ambiguous shots of a human thumb’s alterations in the interference pattern of a plucked string. PRIVATELY RELEASED ON MAGNETIC VIDEO BY LATRODECTUS MACTANS PRODUCTIONS.’ This is a footnote in a long list of films realised by the protagonist. For years, the passage stayed in my mind – hardly surprising, as Wallace is one of my favourite writers. When Shanna Pranaitis asked me to write a piece for her and Frauke Aulbert, I did not hesitate to turn to this subject matter. Both of these exceptional musicians are extremely virtuosic and versatile, and also bring a certain performative element into play. This is necessary, as Finite Jest is very much written in a humorous style (something of a rarity in my work).
Atsiminimas is the Lithuanian word for ‘memory’. This piece completed my music for the flute, which now encompasses all members of the flute family. In the summer of 1984 I composed a completely failed piece for bass flute using three staves, the idea being that the player would switch rhythmically back and forth between them. Soon afterwards I heard the name Brian Ferneyhough for the first time, and became his student the following day. I did not show him the piece, but was flabbergasted when he showed me his own bass flute piece on three staves two years later. The fact that atsiminimas begins on three staves is not meant as a reference to Ferneyhough; although the title is similar to that of his piece, it is connected more to my viola piece memor sum. The idea is a disappearance of the instrument, or in fact the flute family. atsiminimas was composed in close collaboration with Shanna Pranaitis when she recorded my complete flute music on CD. The lowest instrument in the family was missing, despite having previously opened the piece Finite Jest for flute and soprano. In a sense, atsiminimas acts as a summary of my flute music by taking up and formally connecting different ideas.
I thank both of these musicians, especially Shanna Pranaitis, who spared no effort in recording these technically and interpretively demanding pieces.
(Claus-Steffen Mahnkopf)
MUSIQUE POUR FLÛTE
À l’instar du hautbois, la flûte joue un rôle particulier dans mon œuvre. Outre le timbre, ce sont sa virtuosité, son agilité et sa facilité à traverser les registres qui me stimulent. Pendant mes études, déjà, je composai la pièce pour flûte alto solo coincidentia oppositorum (1986) et le solo pour flûte en ut succolarity (1989), deux pièces relativement brèves. Pour le cycle Angelus- Novus-Zyklus, La terreur d’ange nouveau (1997–99) s’est transformée en une véritable grande pièce pour flûte. Quand Shanna Pranaitis a commencé à interpréter ma musique pour flûte voici dix ans, nous avons entamé une collaboration dont les trois dernières pièces sont issues : le solo pour piccolo Kurtág-Cantus II (2013), le duo avec la soprano Frauke Aulbert Finite Jest (2014) et le solo pour flûte basse atsiminimas (2016). L’ensemble de ces six pièces parcourt donc toute la famille des flûtes.
« Coincidentia oppositorum » est le concept-clé de la philosophie de Nicolas de Cues et désigne l’unité de toutes les contradictions réelles dans les plus hautes formes de l’esprit. L’idée de travail est fondée sur ce principe structurel. L’incompatibilité apparaît dans deux types de matériaux diamétralement opposés qui, obéissant chacun à des lois propres, alternent en sections. Sections sur le son mi, toujours au même tempo, avec des variations propres à la flûte (vibrato, flatterzung, bisbigliando, trilles de timbre, etc.), souffle normal. Sections sur les hauteurs restantes, produites de façon percussive (bruits de clés, tongue-ram, claquement de langue, deux sortes de pizzicato labiaux, consonnes dites dans l’embouchure). Les deux types sont joués ensemble et conduits vers une unité.
succolarity est basée sur une idée de la géométrie fractale de Benoît Mandelbrot : un chemin plutôt labyrinthique mais pourtant parfaitment continu d’un point à un autre, qui présente pourtant un petit trou à un endroit, si bien que le processus de la fluidité s’avère finalement interrompu. Un développement avec deux matériaux hétérogènes (attaques incisives martellato et une longue mélodie microtonale) traverse la première partie, quand des multiphoniques alternent dans la deuxième (courte et articulée) ; la dernière propose en quelque sorte l’« autre » côté de la première partie. J’imaginais des créatures volatiles du type toile d’araignée, dont l’inaccessibilité constitue un obstacle diamétralement opposé à la présence physiquement gestuelle de la première partie.
Le grand, très dense solo de flûte La terreur d’ange nouveau est dominé par trois types de sons qui peuvent être décrits de prime abord comme « harmonique », « mélodique » et « rythmique-motiviste ». La répétition rythmique et motiviste domine, les parties harmoniques et mélodiques sont entrelacées. Il en résulte un réseau diversifié de variations, répétitions, tassements et agrandissements.
Kurtág-Cantus II est un développement de la partie de piccolo de mon Hommage à György Kurtág (Mahnkopf Edition 4), lui-même un développement de Solitude-Nocturne pour hautbois piccolo (Mahnkopf Edition 7). J’ai intégré des sons multiphoniques dont la succession induit une dramaturgie autonome. Le caractère est « sempre volante, quasi privo di gravità » (toujours aérien, comme sans gravité).
Dans l’Opus magnum de David Foster Wallaces Infinite Jest on trouve ce passage : « The American Century as Seen Through a Brick. Year of the Whopper. Latrodectus Mactans Productions. Documentary cast w/ narration by P. A. Heaven; 35 mm.; 52 minutes; color w/ red filter and oscillophotography; silent w/ narration. As U.S. Boston’s historical Back Bay streets are stripped of brick and repaved with polymerized cement, the resultant career of one stripped brick is followed, from found-art temporary installation to displacement by E.W.D. catapult to a waste-quarry in southern Québec to its use in the F.L.Q.-incited anti-O.N.A.N. riots of January/Whopper, all intercut with ambiguous shots of a human thumb’s alterations in the interference pattern of a plucked string. PRIVATELY RELEASED ON MAGNETIC VIDEO BY LATRODECTUS MACTANS PRODUCTIONS. » C’est une note de bas de page dans une longue liste de films réalisés par le protagoniste. Pendant des années ce passage ne m’est pas sorti de la tête. Pour le moins, Wallace est un de mes écrivains préférés. Quand Shanna Pranaitis m’a demandé d’écrire pour elle et Frauke Aulbert, je n’ai pas hésité à m’emparer de ce sujet. Extrêmement virtuoses, ces deux musiciennes exceptionnelles savent transformer leur jeu et y intégrer des composantes performatives. Cellesci sont nécessaires car Finite Jest relève définitivement d’un style humoristique (d’ailleurs assez rare chez moi).
« Atsiminimas » est lituanien et signifie « souvenir ». Avec ce morceau, je complète ma musique pour flûte qui, jusqu’alors, comprenait tous les autres instruments de la famille des flûtes. Au cours de l’été 1984, j’ai composé une pièce complètement loupée pour flûte basse sur trois systèmes, en pensant que l’interprète devait faire des va-et-vient entre les trois systèmes. Peu après j’entendais le nom Ferneyhough pour la première fois, quelques jours plus tard je devenais son élève. Bien que ne lui ayant pas montré la pièce, j’ai été étonné qu’il ait noté deux ans plus tard sa pièce pour flûte basse sur trois systèmes. Si atsiminimas commence sur trois systèmes, ce n’est pas pour avoir imité Ferneyhough. Le titre aussi est proche de celui de sa pièce, mais il se réfère plutôt à ma pièce pour alto memor sum. L’idée est la disparition de l’instrument ou plutôt de la famille des flûtes. atsiminimas est née en étroite collaboration avec Shanna Pranaitis alors qu’elle jouait toutes mes pièces pour flûtes. Il manquait l’instrument le plus grave de la famille, qui, tout de même, ouvre Finite Jest pour flûte et soprano. atsiminimas est en quelque sorte un résumé de ma musique pour flûte dont je reprends différentes idées en les reliant formellement.
Je remercie les deux musiciennes, et en particulier Shanna Pranaitis, qui n’ont pas ménagé leurs efforts pour jouer ces morceaux exigeants sur le plan de la technique du jeu et de l’interprétation.
(Claus-Steffen Mahnkopf)