Kammerkonzert

Kammerkonzert

Eine meiner kompositorischen Konstanten ist die Polyphonie, und dabei der Versuch, dieselbe in immer stärker ausgeprägte Extrembereiche zu führen, worunter ich die Steigerung der Komplexität sehe, die im Differenzierungspotential der musikalischen Faktur liegt. Die Ausdifferenzierung der bei der Polyphonie beteiligten Stimmen führt zu deren zunehmender Abtrennung bei gleichzeitig beibehaltener harmonischer Kontrolle des Gesamtgeschehens. Das Verfahren des Auskomponierens dieser Stimmen kann ab einem bestimmten Augenblick dazu führen, daß die nun sehr genau und unabhängig vom übrigen Geschehen gezeichneten Stimmen ihrerseits auch als Solostimmen, somit außerhalb ihres ursprünglichen Bezugsortes, fungieren können. Wird also, umgekehrt formuliert, ein Werk derart polyphonisiert konzipiert, dann ist es möglich, innerhalb dessen weitere Werke gleichsam unterzubringen. In diesem Falle hat man ein Werk, das aus mehreren Werken besteht, die gleichzeitig (als Polyphonie von Stücken) oder aber getrennt (als Einzelwerke) aufgeführt werden kann. Solch eine Konzeption von Polyphonie nenne ich „Poly-Werk“, um den hohen Grad polyphoner Komplexität zu benennen. Mein erstes Poly-Werk, Medusa für Oboe und Kammerorchester (90-92), beinhaltet vier weitere Werke (je eines für Oboe, Cembalo, Harfe und Klarinetten). Mein zweites Polywerk, der Medeia-Zyklus (93-96, abendfüllend), umfaßt drei Stücke, die nahtlos hintereinander zu spielen sind: meine Kammersymphonie, mein Zweites Streichquartett und die Streicherserenade Meta Medeian. Mein drittes Poly-Werk ist nun der Kammerzyklus, der aus fünf Stücken besteht, die in folgender Weise miteinander zusammenhängen.

Das Kammerkonzert ist ein Stück für obligates Klavier und Kammerensemble mit drei Bläsern und drei Streichern, gleichsam ein kammermusikalisches Klavierkonzert. Der Klavierpart enthält eine etwa einminütige Solokadenz, die extern gespielt werden kann und dann Kammerminiatur heißt. Auch der übrige Klavierpart (die Kadenz überspringend) kann extern aufgeführt werden (mit zusätzlichen Angaben zur Agogik, also leicht bearbeitet): als Kammerstück. Die beiden Ensemblehälften, also die Bläser mit Alt- und Baßflöte, Oboe d’amore und Englischhorn sowie Bassetthorn und Baßklarinette (demnach den tieferen Vertretern der Instrumentalfamilien) sowie die Streicher mit Viola, Violoncello und Kontrabaß (ebenfalls den tieferen Streichern), wurden zu einem Bläsertrio und einem Trio basso verarbeitet, dergestalt, daß das rhythmische und das Tonhöhenmaterial der Ensemblestimmen komplett (also auch wieder ohne die Lücke der Solokadenz) übernommen, hingegen alle übrigen Parameter (vor allem Artikulation, Dynamik, Tempo und Klangfarbe) verändert worden sind.
Während somit die beiden Klaviersolostücke – Kammerstück und Kammerminiatur – fast unverändert im Kammerkonzert (der Großfassung) erklingen, bilden die beiden Trios hinreichend veränderte Fassungen des Ensemblematerials. Das Poly-Werk realisiert sich also als Komplettfassung von (teils identischen, teils variierten) Einzelteilen, die als gleichwertig (aus)kom-ponierte Werke auftreten. Ich hoffe, daß das Verhältnis von Teil und Ganzem, von Einheit und Differenz, von Identität und Nicht-Identität hörbar wird.

Zur expressiven Charakteristik des Stücks etwas zu sagen, fällt mir schwerer als die Einblicke in die technische Problematik. Wenigstens das eine: Die dunklen Farben des Ensembles stehen im krassen Widerpart zur hellen, gleißnerisch-aufreizenden Oberlage des virtuos agierenden Klaviers. Diese harte Unversöhnlichkeit habe ich bewußt anzielt, obwohl mein derzeitiges Lebensgefühl eher gegenteilig beschaffen ist.

(Claus-Steffen Mahnkopf)