Mikrotomie
Mein Gitarrenstück entstand um die Jahreswende 1991/1992 auf Bitten von Jürgen Ruck, denen ich insofern gerne nachkam, als ich darin eine besondere Herausforderung an meine kompositorische Praxis sah, nachdem bis dahin, trotz Rucks Können, dieses Instrument für mich wegen seiner starken Einbindung in Bereichen nicht-künstlerischer Musik an mangelnder „Integrität“ zu leiden schien. Daher versuchte ich von vornherein, meine generellen Anliegen um polyphoniegesteuerte Komplexität auf ein Instrument zu übertragen, das zwar einer polyphonen Tradition entwuchs, aber in Spieltechnik und Klanglichkeit nicht automatisch meinen übersteigerten Erwartungen hinsichtlich einer stark gestisch trennenden Aufspaltung entspricht. Dies führte zu einer geradezu utopischen Struktur, die schon allein notationell darin besteht, daß das Stück auf bis zu vier – metrisch und im Tempo divergierenden – Systemen aufgeteilt ist, deren individuelles Eigenleben ebenso scharf voneinander abgehoben sein (gleich einem mehrstimmigen Kontrapunkt) wie auch zu einer vereinheitlichenden „inneren Agogik“ verschmelzen sollte. Dieser Trennung in der Vertikalen entspricht die in der formalen Sukzession, wonach das Stück aus scharfkantigen, geradezu metallisch schneidenden Brüchen besteht (daher der Name des Stücks, der auf die Technik zur Herstellung feiner mikroskopischer Schnitte anspielt), wodurch eine Abfolge stark kontrastierender Abschnitte entsteht, die ihrerseits durch ein labyrinthisches Netz von materialen Bezügen auf der Seite der Konstruktion integriert sind.
Gäbe es eine Poetik doppelt gefrorener Eiskristalle, ich wünschte mir, daß das Stück in deren Geiste gespielt würde.
(Claus-Steffen Mahnkopf)