Gorgoneion

1990

for oboe [15′]

Commissioned by the Baden-Württemberg Ministry of Sience, Research and Arts

First performance: 11 February 1992, Hamburg. Peter Veale

© Bärenreiter, Kassel · score: ba 7299

CD:NEOS 11813

Gorgoneion

Mein (zweites) Oboenstück stellt – sieht man von dem intermittierenden Mittelteil des Englischhorns ab – den Solopart meines Oboenkonzerts Medusa dar, in dem zusätzlich, neben dem Cembalostück Pegasos, die Klarinettenstücke Die Schlangen der Medusa und die beiden Harfenminiaturen Stheno und Euryale erklingen. Gorgoneion ist der Name des (abgeschlagenen) Medusenhaupts, das Athene im Schild trug. Das Phänomen „Medusa“ ist für mich nicht nur wegen der immensen kunst- und kulturhistorischen Bedeutung von Reiz, sondern verkörpert, wie kaum ein anderes epochenübergreifendes abendländisches Symbol, die Paradoxie von Schönheit und Destruktion. Die Gorgo Medusa war unendlich schön, so daß sie den Betrachter anzog und bannte wie keine andere, zugleich aber von einem versteinernden und darum den faszinierten Betrachter tötenden Blick (vgl. Baudelaire: „La douceur qui fascine et le plaisir qui tue.“). Diese unheilvolle Fatalität entspricht meinem Lebensgefühl zumal meiner Gesellschaft gegenüber, deren Falschheit und Verlogenheit (mit der Konsequenz der Unfähigkeit, zu bestehen) ich zwar gründlich durchschaue, von der ich aber, trotz der Gefahr, ihren konsumistischen Fallen zu erliegen, nicht ablassen kann, um ihr im Sinne einer anarchistischen Revolte den Rücken zu kehren. Statt dessen verbleibe ich in der eigentümlichen Spannung von Attraktion und Ekel – einer Spannung, die typisch ist für die Zwangslage eines autonomistischen Künstlers im ausgehenden 20. Jahrhundert, dessen Tun, zumindest für den Außenstehende, etwas Manieristisches hat, kraft dessen er per se mit jener auf die Renaissance zurückgehenden Tradition des Manierismus verbunden ist, für die Medusa und ihr Haupt stets ein beliebtes Sujet waren.

Mit Peter Veale, der 1988 bereits auf den Darmstädter Ferienkursen mein erstes, ebenfalls „hyperkomplexes“ Oboenstück Monade uraufführte, verbindet mich eine langjährige Zusammenarbeit, in die eine systematische und umfassende wissenschaftliche Erforschung aller Spieltechniken der Oboe, vordringlich aller (computeranalysierten) Mehrklänge fällt. Dieses über viele Jahre angesammelte Wissen floß in Gorgoneion ein. Daher versammelt dieses Stück nicht nur alle spieltechnischen Errungenschaften der letzten Jahrzehnte, sondern präsentiert zum ersten Mal sowohl eine Palette von Innovationen als auch die konsequente harmonische Nutzung der spektralen Eigenschaften der eingesetzten Mehrklänge. Darüber hinaus ist das Stück in formal relevanten Passagen achteltönig organisiert, währen die Vierteltönigkeit wie zum selbstverständlichen Tonhöhenmaterial gehört. Die Form ließe sich auf die Formel A‘-B-A-B‘ bringen, wobei A und B die „Substanzen“ sowie A‘ und B‘ die davon wie immer variativ abgeleiteten Teile bedeuten. Die letztlich melodische Substanz A erscheint an der Stelle der Kadenz, die aber nicht als Virtuosität (diese fällt in A‘), sondern als komprimiertes Material auftritt. A‘ bezeichnet den ersten, weitaus größten Teil, der die verschiedenen Aspekte von Medusahaftigkeit multiperspektivistisch „durchführt“. Gilt das melodische „Design“ A dem Merkmal bezaubernder Schönheit, so offenbaren die B-Teile den aggressiven und letztlich gnadenlos destruktiven Aspekt der Medusa, klanglich verkörpert durch zunehmend härtere Mehrklänge, die gleichwohl bereits im ersten Teil antizipiert werden. Mit diesen endet auch das Werk.

Das Stück ist von allen des MEDUSA-Zyklus das zuerst komponierte – daher das autonomste, wenn auch bereits auf das spätere Oboenkonzert Rücksicht genommen wurde. Zu Gorgoneion treten daher in Medusa nicht nur das streicherdominierte Kammerorchester, sondern zugleich die verschiedenen anderen Stücke des MEDUSA-Zyklus, die strategisch über die Gesamtform verteilt sind. Bei dieser ergibt sich beispielsweise, daß der Schluß von Gorgoneion mit der sechsten und letzten Sektion von Pegasos zusammenfällt. Daher haben beide Stücke an dieser Stelle gleiches Taktschema, gleiches Tempo und ähnliche Ausdrucksvaluers, wenn auch syntaktisch verschoben. Dennoch, so hoffe ich, wird kein Hörer, der noch nicht das Gesamte, den MEDUSA-Zyklus als Ganzes, gehört hat, die mögliche Zusammenfügbarkeit beider Stücke erkennen. Denn das sollte das Ziel meiner Arbeit gewesen sein: Werke zu schreiben, die derart ausindividuiert sind, daß sie sich vom „Rest der Welt“ abkapseln und dennoch, in anderem Kontext, ohne irgend die Organik zu beeinträchtigen, zusammengeführt werden können. Wenn mir das in der Tat gelänge, dann erfüllte sich meine Utopie von „solitaristischer Monadizität“ und „kollektiver Kommunikabilität“.

(Claus-Steffen Mahnkopf)