Hommage à Daniel Libeskind, Vol. I

2002

for six players [15′]

Commissioned by Westdeutscher Rundfunk

1(picc, bass flute).1(cor anglais).1(bass clar).0 – 0.0.0.0 – strings (1/0/1/1/0)

First performance: 22 November 2002, Köln. ensemble recherche

© Sikorski, Hamburg · score: sik 8604

CD: NEOS 11616

Hommage à Daniel Libeskind, Vol. I

Jeder hat einmal im Jahr sein künstlerisches Erlebnis. Im Jahre 2000 war es für mich das Jüdische Museum in Berlin von Daniel Libeskind, damals noch unbestückt und daher als Architektur und nicht als Museum begehbar. Seit Kindeszeiten erträumte ich mir solche Architektur. Schräge Wände, quere Balken, asymmetrische Proportionen, überhaupt die Vermeidung jedweder vorgeblicher klassizistischer Ideale, aber auch die Konterkarierung des Nützlichkeitsprinzips – so sollten Bauten sein; phantasievoll, kühn, gewagt, nie dagewesen, jedoch im Aufbau streng und nicht-ornamental, sozusagen doch kein Manierismus, trotz der antiklassizistischen Attitüde. Zaha Hadid nennt eine solche Strategie die Vermeidung des 90°-Winkels. Allein, das Jüdische Museum ist kein Werk der Vermeidung, sondern definiert einen neuen und einen eigenen Stil. Er ist die Kombinierung einer Vielzahl von widerstrebender Linien im dreidimensionalen Raum, die als Linien sichtbar gemacht werden, um Räume anzudeuten oder zu konstituieren, nicht aber um Flächen auszubalancieren. Das Jüdische Museum hat genügend Eigenkomplexität, um als Architektur, als Werk eigener Substanz – und nicht erst im konkreten Gebrauch – bestehen zu können. Wäre es weiterhin leer – man ginge dorthin, um der Architektur willen und um dessen, was sie sagt. Und natürlich erkannte ich mich wieder, denn 1988, als das Jüdische Museum entworfen wurde, komponierte ich mein Klavierstück Rhizom – Hommage à Glenn Gould, das auf die gleiche Weise mit versprengten und vektorialisierten Mikadostäben arbeitet. Das Ensemble recherche bat mich Anfang 2001 um ein Sextett. Ich erabeitete einen Plan von 63 Miniaturen mit allen nur denkbaren Besetzungskombinationen vom Solo bis zum Sextett; diese Miniaturen werden auf drei Bücher verteilt, die einzeln oder nacheinander gespielt werden (im letzten Fall füllen sie etwa ein Stunde). Grundidee im ersten Buch sind Haltetöne ohne jedweden Ausdruck und ohne jede parametrische Änderung („dinamica statica“). Diese Töne können gleichsam „aufgewertet“ (durch Expression) oder „abgewertet“ werden, in dem der Tonhöhenanteil zugunsten des Geräuschs verschwindet. Ich hoffe, mit meiner Musik ein Äquivalent zur kühlen Expressivität von Libeskinds genialem Bau, zur Semantik des „between the lines“ und zur Dekonstruktivität von Formen gefunden zu haben.

(Claus-Steffen Mahnkopf)

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