Hommage à Daniel Libeskind, Vol. II
Jeder hat einmal im Jahr sein künstlerisches Erlebnis. Im Jahre 2000 war es für mich das Jüdische Museum in Berlin von Daniel Libeskind, damals noch unbestückt und daher als Architektur und nicht als Museum begehbar. Seit Kindeszeiten erträumte ich mir solche Architektur. Schräge Wände, quere Balken, asymmetrische Proportionen, überhaupt die Vermeidung jedweder vorgeblicher klassizistischer Ideale, aber auch die Konterkarierung des Nützlichkeitsprinzips – so sollten Bauten sein; phantasievoll, kühn, gewagt, nie dagewesen, jedoch im Aufbau streng und nicht-ornamental, sozusagen doch kein Manierismus, trotz der antiklassizistischen Attitüde. Zaha Hadid nennt eine solche Strategie die Vermeidung des 90°-Winkels. Allein, das Jüdische Museum ist kein Werk der Vermeidung, sondern definiert einen neuen und einen eigenen Stil. Er ist die Kombinierung einer Vielzahl von widerstrebender Linien im dreidimensionalen Raum, die als Linien sichtbar gemacht werden, um Räume anzudeuten oder zu konstituieren, nicht aber um Flächen auszubalancieren. Das Jüdische Museum hat genügend Eigenkomplexität, um als Architektur, als Werk eigener Substanz – und nicht erst im konkreten Gebrauch – bestehen zu können. Wäre es weiterhin leer – man ginge dorthin, um der Architektur willen und um dessen, was sie sagt. Und natürlich erkannte ich mich wieder, denn 1988, als das Jüdische Museum entworfen wurde, komponierte ich mein Klavierstück Rhizom – Hommage à Glenn Gould, das auf die gleiche Weise mit versprengten und vektorialisierten Mikadostäben arbeitet.
Ich erarbeitete einen Plan von 63 Miniaturen mit allen nur denkbaren Besetzungskombinationen vom Solo bis zum Sextett; diese Miniaturen werden auf drei Bücher verteilt, die einzeln oder nacheinander gespielt werden (im letzten Fall füllen sie etwa ein Stunde). Diese Miniaturen können sich auch überlagern und überlappen. Damit wird die Idee der Kammermusik gesteigert, denn dieses Werk kann nicht dirigiert werden, sondern muß auf die stets unterschiedlichen Gruppensituationen zwischen den Musikern vertrauen.
Die 63 Miniaturen bilden kleine Charakterstücke mit je eigener Klanglichkeit (z. B. extrem hohe hohe oder tiefe Lage; eher geräuschhaft oder eher symphonisch; eher rhythmisch oder eher linear; eher introvertiert oder eher expansiv), exponieren die Soloinstrumente (die Oboe hat das längste selbständige Solo) und spielen unterschiedliche Rollen zwischen den Kammermusikpartnern durch. So versuchte ich eine Multiperspektivität zu erreichen, ohne allerdings die Form zu vernachlässigen. Im Grunde sind alle Miniaturen syntaktisch untereinander Variationen; entsprechend sind stets zu Beginn zwei lang gehaltene Klänge plaziert, in den gleichen Proportionen, die zugleich dazu dienen, den musikalischen Fluß zu sistieren. Letztlich ging es darum, eine Gesamtdramaturgie zu finden, die als Großform funktioniert und trotzdem dem Hörer es gestattet, sich in der Zeit zu verlieren.
Vol. II, das zweite Buch, entstand 2010/2011 im Auftrag des Ensemble SurPlus (mit Unterstützung der Ernst von Siemens Musikstiftung). Es besteht aus 25 Miniaturen. Im Mittelpunkt steht ein großes Violoncello-Solo, das mehr als 12 Minuten dauert und um das herum sich andere Miniaturen lagern. Zeitweise bestehen diese nur aus einem stehenden Akkord (achtmal), so daß in dieser Mitte und damit in der Mitte des gesamten Zyklus die Musik zu einer statischen Ruhe kommt. Während im ersten Buch jede Miniatur möglicht individuell gestaltet ist, greifen im zweiten manche verwandte aus dem ersten Buch auf und variieren sie.
(Claus-Steffen Mahnkopf)