Medusa

Medusa

Fraglos stellt das Oboenkonzert Medusa mein bisher ehrgeizigstes kompositorisches Projekt dar, sind doch zugleich mehrere intensiv wirksame Quellen künstlerischer und musikalischer Problembewältigung in es geflossen. Zum einen handelt es sich um mein erstes Poly-Werk, mit dessen Konzeption ich an die große mitteleuropäische Tradition der polyphone Diskursformation anschließe, es stellt die Befestigung meines Stils dar, den man mit den Attributen komplexistisch, polyphon, expressivistisch und dekonstruktiv nicht verfehlt, es thematisiert im musikalischen Material und kompositorischen Denken, das sich diesem stellt, diejenige große musikästhetische Dichotomie zwischen Komplexismus (als der Fortführung des konstruktiv-expressiven Komponierens, wenn man so will: der „deutschen“ Tradition) und Spektralismus (als der des klangorientierten, impressivistischen, sozusagen der „französischen“ Tradition), die gegenwärtig den Stand der Musikgeschichte im Ausgang der „neuen“ Musik bezeichnet. Zum anderen und auf der gehaltlichen Seite stellt Medusa meinen ersten dezidierten Beitrag zum Jahrhundertende, zum Jahrtausendwechsel, ja zum Übergang zu einer Musik des 21. Jahrhunderts dar – im Augenblick der überdeutlichen Erschöpfung der sogenannten neuen Musik und der unabdingbaren Notwendigkeit einer vertieften Besinnung auf einen notwendigen Neubeginn, wenn es darum geht, gegen Verblödung und bloße Spielerei die Idee der großen Musik in jedem Akt künstlerischer Tätigkeit zu behaupten.
Vielleicht darf ich mit der gehaltlichen Seite beginnen. Die Partitur trägt auf der ersten Seite ein Motto, entnommen den Baudelaireschen Fleurs du mal: „La douceur qui fascine et le plaisir qui tue.“ Diese unversöhnte, ja unversöhnbare Dichotomie bezeichnet nicht nur einfach mein eigenes Lebensgefühl zwischen vitaler Teilhabe am Weltgeschehen trotz des Wissens um die „Dialektik der Aufklärung“ und dem der Destruktion Ausgesetztsein trotz der existentiellen Schutzmaßnahmen, die man im Laufe des Lebens zuzulegen lernt, sondern ist viel allgemeingültiger, kennzeichnet den kulturellen Status quo in ungewohnt klarer Präzision. Die antike Gestalt der Gorgo Medusa, den kunstgeschichtlichen Manierismusepochen stets eine willkommene Allegorie, personifiziert zwischen der verführerisch anziehenden Schönheit und dem unrettbar versteinernden Blick jene Dichotomie. Das Schöne entpuppt sich als gnadenlose Instanz der Tötung, der Richtung, eines definitiven Endes. Dieser Idee ist das Oboenkonzert verpflichtet, sein Untertitel lautet daher: Image manièristique dédiée à la fin du millénaire. Bild, weil Medusa trotz eines dynamischen Zeittypus, dem meine Musik verpflichtet ist, als ein Ganzes, gleichsam Instantanes gehört werden möchte – manieristisch, wenn ich den Selbstzweckcharakter aller Kunst, ihre Autonomie gegen alle „Engagiertheit“ emphatisch verteidigen möchte und weil die sinnliche Aura (wunschgemäß simuliert geruchshaft) durchaus die Endzeitstimmung einfangen soll – den Eindruck von Verwesung und liebloser Verschwendung, einer Dekadenz, der freilich die „Klasse“ der letzten fin de siecle fehlt: die Postmoderne dreht durch wie ein Hinterrad im Schlamm.

Gesessen habe ich an der Partitur – einzig unterbrochen durch die Dissertation und das Gitarrenstück Mikrotomie – über 2 1/2 Jahre, so lange wie bei keinem zweiten Werk. Kurz nach dem 30. Geburtstag wurde es fertig, jenem für mich magischen Datum des Eintritts in ein Alter, das das Etikett des jungen Komponisten, mit dem man den geschichtlichen Nachwuchs verharmlost, überwindet. Die Partitur ist, wie man so sagt, komplex, vielleicht ist dies der Grund, warum das Festivalsystem vier Jahre zur Premiere benötigte. Fertig wurde das Werk im November 1992. Seither sind zwei weitere Poly-Werke – der Medeia- und der Kammerzyklus – entstanden, das vierte, ein Musiktheaterwerk, ist in Vorbereitung. Konkreter Anlaß zur Inspiration in den 80er Jahren war meine intensive Zusammenarbeit mit Peter Veale, aus der 1994 die Publikation unseres gemeinsamen Buches Die Spieltechnik der Oboe erwuchs. Der Solopart stellt die erste Anwendung, zumal im Bereich der Mehrklänge, dieser recherchierten Innovationen dar – über Materialfortschritt sollte wieder differenziert gesprochen werden. Zugleich kam die Genese „meines“ Komplexismus, des unaufhörlichen Versuches der Steigerung material gegebener musikalischer Komplexität (in Absetzung von poetisch behaupteter) durch radikale Polyphonisierung des Diskurses – expressiv und multiperspektivisch zugleich -, an den notwendigen Punkt des Überstiegs zu dem, was ich seither Poly-Werk heiße. Der Orchesterpart ist in Teilen derart ausdifferenziert, daß eigenständige Werke herausnehmbar und exkorporiert aufführbar, ja von vornherein als selbständig entworfen und komponiert sind – und doch wieder auch als Teil eines übergeordneten Funktionszusammenhangs. Wie in aller Polyphonie geht es auch im Poly-Werk um die Differenz als Differenz. So betrachtet ist das Oboenkonzert auch ein Konzert mit mehreren Stücken und somit mehreren Solisten.

Das Zentralstück ist das Oboenstück Gorgoneion (1990), identisch mit dem Solopart abzüglich des Englischhorn-Mittelteils, komponiert für Peter Veale, der es 1992 in Hamburg uraufführte (der Name bezieht sich auf das abgeschlagene Medusenhaupt). In den Orchesterapparat gleichsam eingelassen sind das Cembalostück Pegasos (1991), geschrieben für David Adams, im gleichen Konzert uraufgeführt, die vier Klarinettenminiaturen Die Schlangen der Medusa (1991), für die vier Vertreter der Familie (hoch, normal, Baß und Kontrabaß), 1991 auf der Gaudeamus Musikwoche Amsterdam in der Fassung für zwei Spieler (Harry Sparnaay und Harmen de Boer) premiert, zuletzt das Harfenstück Stheno und Euryale (benannt nach den zwei Schwestern Medusas), entstanden 1992, die Uraufführung war 1997 Virginie Tarrête als Solistin in München. – Das Kammerorchester besteht aus zwölf Streichern, die in Trio-, Quartett- und Quintettformat gruppiert sind, und der „Zupfgruppe“ mit Gitarre, Cymbalon, nebst dem Cembalo und den beiden Harfen.

Die Pluralisierung der Form, die dem Poly-Werk naturgemäß zugrundeliegt, zeigt sich in mannigfachen Ausprägungen sekundärer Art, die alle zu bezeichnen zu weit führe. Nur so viel: Stheno und Euryale besteht aus zwei Miniaturen, die auf zwei Instrumente (das eine davon vierteltönig scordatiert) verteilt sind, das Cembalostück ist eine Art Passacaglia mit 6 Abschnitten, die über die Großform zerlegt sind, das Klarinettenstück, als Solowerk linear gespielt, mittels Überlappung bis zur dreistimmigen (internen) Polyphonie verdichtet.

Ich vermute, daß einem ersten Hören vieles entgehen wird – komplexistische Musik lebt vom Surplus des zwar materiell Vorhandenen, aber erst in vielen Anläufen Erreichbaren, aktivisch und im Wechselspiel von Detektivischem, Erinnertem und Rekombiniertem. Anwesenheit, so das Wesen der dekonstruktiven Kunst, ist vermengt mit ihrer Abwesenheit, beides bildet ein Kontinuum aus Diskontinuierlichkeiten. Dialektisches bleibt, wird aber als Spannungszone ohne Synthetisierungszwang ausgereizt. Wer glaubt, musikalisch sei reine Präsenz möglich, ja erstrebenswert, ist meines Erachtens naiv, wer glaubt, umgekehrt Abwesenheit ohne die reale Anwesenheit des Abwesenden erreichen zu wollen, verloren. Es ist das Signum der komplexistischen Musiksprache, die Frage nach dem musikalischen Hier und Jetzt neu gestellt zu haben. Dies dürfte einem Paradigmenwechsel – zufälligerweise am Jahrhundertende? – gleichkommen.
Bleibt die Dichotomie zwischen dem komplexistischen Zugang zur mis-en-musique und dem Spektralismus. Ich gestehe, daß ähnlich Berg in Absetzung von Schönberg ich den harmonischen Dimensionen durchaus verlockend ausgesetzt bin, trotz oder gerade wegen der Anverwandlung an Natur. Und so geize ich mit flächiger, klanglicher Disposition im ersten Teil des Konzerts keineswegs – die später dominierenden Mehrklänge der Oboe sind ja selber von spektralem Aufbau. Medusa – so meine Absicht – ist zu Beginn „schön“, wie man so sagt. Doch das Harmonische wird zunehmend vom Diskursiven, Polyphonisierten zersetzt, aufgefressen, während es in den Oboenpart wandert – als Mehrklangskaskaden, die aber paradoxerweise nicht harmonisch wirken können, sondern sprachfremd Einzelereignisse darstellen. Medusas Aktion – erst Attraktion und dann Tötung – wird so im musikalischen Prozedere selber umgesetzt, richtet zugleich über einen „nur“-harmonischen, synthetisierenden Stil, plädiert für das Differente, Diskrepante, Ungelöste, Sperrige, das Dekonstruierte. Daß hier die zwei zentralen europäischen Traditionen musikalischen Denkens derart verhakt sind – sagt das etwas über den Status quo aus, dem sich ein Nachdenken über „neue“ Musik stellen müßte? Das 21. Jahrhundert wird uns einige, vermutlich die einfachen Antworten bescheren.

(Claus-Steffen Mahnkopf)

 

Medusa-Zyklus

Im zyklischen Wechsel zwischen solchen Stücken unter meinen Hauptwerken, die ambitionierte kompositionstechnische Konzeptionen umzusetzen suchen (etwa Rhizom für Klavier von 1988/89), und solchen, die gleichsam eine persönliche Bilanz der dazugewonnenen Lebenserfahrung musikalisch zu ziehen suchen (etwa Erstes Streichquartett von 1988/89 und MEDEIA-Zyklus seit 1993), stellt mein MEDUSA-Zyklus zweifelsfrei das bislang komplizierteste und kompositorisch anspruchsvollste Projekt meines bisherigen Schaffens dar. In ihm kommen meine Bemühungen um Steigerung musikimmanenter Komplexität, die sich im Anschluß an die große mitteleuropäische Tradition des konstruktiv-expressiven Komponierens an dem zentralen Prinzip der Polyphonie orientiert, und eine direkte zeitgeschichtliche Stellungnahme zusammen

Medusa (entstanden zwischen 1990 und 1992) ist ein etwa 20minütiges Konzert für Oboe und Kammerorchester, das aus 4 Klarinetten, einem Streichtrio, einem Streichquartett, einem Streichquintett und einer „Zupfgruppe“ mit Cymbalon, Cembalo, Gitarre und 2 Harfen – eine davon vierteltönig gestimmt – besteht. Dabei sind folgende Aspekte zu berücksichtigen.

1. Der Solooboenpart stellt die erste Anwendung des gemeinsam mit Peter Veale für unser darin historisch innovativen Oboenbuches erarbeiteten Materials dar, vordringlich der Mehrklänge in ihrer nun exakt bekannten Harmonik und deren Interaktion mit dem Orchester.

2. Auf der inhaltlichen Ebene allegorisiert die antike Gestalt der Gorgo Medusa mein Lebensgefühl im ausgehenden 20. Jahrhundert, ja zweiten Jahrtausend, ein Lebensgefühl, das man mit der Dichotomie von Anwiderung und Teilnahme kennzeichnen kann. In dem Maße, wie ich die ubiquitäre gesellschaftliche Ir rationalität mit allen katastrophalen Folgen (für die Zukunft zumal im Kulturellen und damit auch im Musikalischen) durchschaue und daher zu verwerfen nicht umhin kann, bin ich zugleich auch fasziniert von den enormen materiellen und pragmatischen Potentialen, die die gesellschaftliche Aufklärung der letzten Jahrhunderte zeitigte. Dieses Lebensgefühl von luxurierendem Überfluß und ethischer Verachtung bedeutet in der Kunst die Paralellität von Manierismus und Negativität. Medusa, so die Überlieferung, erfüllte die Paradoxie von Schönheit und Destruktivität in einer allegorischen Weise. Von unendlicher Schönheit zog sie den faszinierten Betrachter an, den sie mit ihrem Blick zugleich versteinerte. Dieses Attrahierende, das sich als Tötendes entpuppt, gleicht dem Baudelaireschen Vers aus den Fleurs du mal „La douceur qui fascine et le plaisir qui tue“. Der großformale Ablauf des Oboenkonzertes zeichnet dementsprechend die Transformation von dem, man ist geneigt zu sagen: zu Schönen zum letztlich gnadenlos Erschlagenden nach. So wie das Phänomen Medusas in den Zeiten des künstlerischen Manierismus sich hoher Beliebtheit erfreute, fehlt das deutliche Moment des Manieristischen bei mir nicht, das ich zumal durch klangliche und harmonische Valeurs zu staffieren suchte. Gleichwohl wäre dahinter Postmodernität zu vermuten, völlig abwegig, nicht zuletzt, weil ich trotz der Überbetonung des Selbstzweckhaften dieses Werkes ein Ausdruckskünstler bleibe. Vielmehr sehe ich in meinem MEDUSA-Zyklus gerade vermöge der in einer ungelösten Spannung gehaltenen Dichotomie von Reiz und Ekel einen künstlerischen Beitrag zum Ende dieses Jahrhunderts, das, Baudrillard zufolge, ohnehin bereits abgeschlossen ist. Daher trägt mein Oboenkonzert den Untertitel: „Image manièristique dédiée à la fin de millénaire“.

3. Folgende Werke gehören, neben dem eigentlichen Oboenkonzert, zum MEDUSA-Zyklus:

– Gorgoneion für Oboe solo (1990),

– Die Schlangen der Medusa für Klarinetten (1991),

– Pegasos für Cembalo (1991) und

– Stheno und Euryale für 2 Harfen (1992).

Der kompositorische Ansatz sieht nun vor, daß die vier eigenständigen Werke Die Schlangen der Medusa, Stheno und Euryale, Pegasos und Gorgoneion – übrigens allesamt Aspekte des semantischen Umfeldes der Gorgo – zugleich integrale Bestandteile des Orchesterparts – und zwar unverändert – des Oboenkonzertes Medusa sind. Wir haben also so etwas wie Werke innerhalb eines Werkes. Für eine solche Konzeption habe ich den Begriff Poly-Werk vorgeschlagen. Es geht hierbei nicht um aleatorisches Beieinander, um tachistische Willkür, eine Montage oder um etwas Ominöses wie eine Simultanaufführung. Vielmehr geht es um die radikale Erweiterung eines letztlich traditionellen Polyphoniebegriffes. Ausgangspunkt der Polyphonie ist die Autonomie von Einzelstimmen im Kollektiv, von Einheit in der Vielheit, von Identität im Verschiedenen. Ideal ist das selbstständige Profil, das sich mit mehreren mischt. Dieser Ansatz kann man nun auf immer höhere Stufen der musikalischen Konstruktion übertragen. Ansatzweise hat dies Alban Berg in seinem Kammerkonzert versucht, dessen dritter Satz die beiden davor vereinigt. Die polyphone Kontrapunktik der verschiedenen Werke innerhalb des Oboenkonzertes geschieht, um es prinzipiell zu formulieren, streng organizistisch.

(Claus-Steffen Mahnkopf)