Rhizom. Hommage à Glenn Gould

1988/89

for piano [15′]

First performance: 11 February 1992, Hamburg. Till A. Körber

© Bärenreiter, Kassel · score: ba 7252

CD: Baldreit-Edition Baden-Baden 1995 (see Order) · NEOS 11813

Rhizom

Man kann meine Werke im großen und ganzen in zwei Gruppen einteilen: in sogenannte Charakterstücke, die eine ganz bestimmte Art musikimmanenter Expressivität zu fixieren suchen, und in multiperspektivistische Stüc ke, die, zumeist auf der Grundlage einer extremen Polyphonie, den gesamten Reichtum von Darbietungsmöglichkeiten eines exponierten Materials auf möglichst engem und gedrängtem, weil expressionsexplosivem Raum zu versammeln trachten. In meinem Klavierstück kommen im Wesentlichen zwei Ideen, eine klanglich-spieltechnische und eine satztechnisch-semantische, zusammen. Glenn Gould ist für mich der beste und musikalisch ausdrucksstärkste, dabei zugleich der polyphonste Instrumentalist, den ich kenne. Ich habe seiner Art gegenüber, Klavier zu spielen, eine abgöttische Liebe entwickelt. Die Genialität seines Spielens liegt vordringlich darin, das Klavier konsequent als „punktualistisches“ Instrument anzusehen, bei dem ein Ton, ist er einmal angeschlagen, nicht mehr manipulierbar ist, weil er rasch verklingt. Daher sind die verschiedenen Grade von „molto legato“ bis „staccatissimo“ für die Klangfarblichkeit und damit für die Unterscheidbarkeit der polyphonen Faktur allesentscheidend, weswegen aber das Klangbild durch den Pedalgebrauch nicht wieder verwischt werden darf. Daher ist der Einsatz des (rechten) Pedals in Rhizom höchst sparsam. Zugleich werden alle übrigen pianistischen Errungenschaften Glenn Goulds in die organisatorische und morphologische Struktur meines Stücks einbezogen. Ursprüngliche Idee für Rhizom war, die Polyphonie – und in der Tat ist dieses Werk, neben meinem Oboenkonzert Medusa, dessen Polyphonie so weit geht, daß gleichzeitig gleichberechtigte Stücke autonomen Rangs erklingen, das im Polyphonen kühnste Projekt – derart voranzutreiben, daß aufgrund der Ausdifferenzierung der beteiligten Ereignisschichten (in diesem Falle: 13) der Hörer eine in sich schizophrenisierte Gleichzeitigkeit nicht nur von Verschiedenem, sondern von verschiedenen Zeitebenen mit divergierenden Ereigniskomplexen vernimmt. Die französischen Poststrukturalisten Deleuze und Guattari haben dafür den Titel eines rhizomatischen Labyrinths vorgeschlagen. Unter komplexer Polyphonie verstehe ich, daß gleichzeitig, d. h. in einer wie immer zusammengezwungenen Form völlig Gegensätzliches, mitunter Überlappendes, netzwerkartig Verknüpftes mit mehr unterirdischen Verweisungszusammenhängen in eine Werktotalität gebannt sind, ohne gleichwohl eine Expressivität zu entbehren, die in diesem Falle eher „formativ“ ist und weniger sich an die Eigenbedeutungen der Einzelheiten bindet, sondern aus Kräften zwischen dem Heterogenen besteht. Dieser Art von „komplexistischer“ Gedrängtheit gleichzeitigen Zusammenprallens dessen, was üblicherweise nacheinander folgt, bin ich in allen multiperspektivistischen Stücken verpflichtet. Die kompositionstechnische Frage bei Rhizom war darüber hinaus jedoch die, wie weit eigentlich das Material und die dafür vorgesehene Technik polyphonisch getrennt sein müßten, damit Polyphonie allererst entstehen könne, ohne allerdings auf der anderen Seite die Einheit des stilistischen Vokabulars zu zerstören. In Rhizom ging ich, um diese Frage zu beantworten, so weit, daß jeder der 13 Schichten, die ich Vektoren nenne, da sie zeitlich gerichtet und wie Mikadostäbe scheinbar wirr im (semantischen) Raum verteilt sind, nicht nur eigenes morphologisches Material, sondern zugleich eine eigene Kompositionstechnik zugeordnet sind. In meinem Klavierstück ist somit nicht nur die Satztechnik, sondern sogar die Kompositionstechnik insgesamt polyphon organisiert. Der enormen kompositorischen Virtuosität entspricht dabei die des Spielers, der ja nicht nur alle 13 Schichten (wenn auch zumeist nicht alle gleichzeitig) in einen interpretatorischen Kosmos binden, sondern auch die extreme Verschiedenartigkeit des Gleichzeitigen auch hörend und erlebend gestalten muß. Diese „schizothyme Organik“ sehe ich allerdings nicht, um Mißverständnissen vorzubeugen, als technologischen Manierismus, wie man mir häufig vorwirft, sondern als expressivistische Reaktion auf die „Verfassung“ der heutigen Psyche in einer zunehmend „disseminativen Polypluralität“ (Lyotard). Es obliegt letztlich dem Hörer, den jeweils eigenen, höchst individuellen Weg durchs Labyrinth zu finden, das die Aufgabe hat, nicht etwa den Ausgang, sondern sich selbst zu suchen.

(Claus-Steffen Mahnkopf)